
Ein Blick zurück ins Jahr 1995
Dreißig Jahre ist es her – und doch wirkt 1995 seltsam nah. Kein mythisches „Damals“, sondern ein konkretes „Jetzt“, das wir hinter uns gelassen haben. Ein Jahr, das schon Vergangenheit ist, aber noch nicht ganz verblasst.
Man stellt es sich gerne ähnlich vor.
Und dann schaut man wirklich hin und merkt: Das war eine andere Welt.
Helmut Kohl regierte in Deutschland, Jacques Chirac in Frankreich, Bill Clinton in den USA. Der Umzug der Bundesregierung von Bonn nach Berlin wurde beschlossen.
„Forrest Gump“ bekam sechs Oscars.
Das Wort des Jahres lautete: Multimedia.
Und das Internet? Das machte Geräusche.
Das Internet. Neu. Laut. Und voller Versprechen.
Wer 1995 online wollte, brauchte Geduld und Nerven aus Drahtseilen.
Das Modem kreischte, piepte, ratterte. Ein Sound, den man nie wieder vergisst.
Online bedeutete: das Telefon blockieren.
Ein Klassiker: „Mach das Internet wieder aus, ich will telefonieren!“
Man ging ins Netz. Und kam wieder raus.
Offline bedeutete wirklich: o f f l i n e .
Webseiten luden Zeile für Zeile. Suchen war ein Abenteuer.
Man tastete sich mit Altavista oder Yahoo durch die digitalen Nebel.
Spiele. Pixel, Disketten und viel Fantasie.
Gespielt wurde auch. Aber anders. Pixelig.
Auf dem PC kämpfte man sich durch Command & Conquer, baute in Die Siedler II ganze Reiche auf oder verlor Stunden mit SimCity 2000.
Auf dem Super Nintendo rannte man mit Super Mario World über bunte Plattformen oder duellierte sich in Street Fighter II mit Freunden. Seite an Seite auf der Couch.
Die PlayStation war gerade erst erschienen. Revolutionär mit 3D-Grafik. Wipeout, Ridge Racer, Tekken. Wer eine hatte, war König auf dem Schulhof.
Auch Doom und Warcraft II wurden gespielt. Nicht online, sondern im LAN-Keller, mit verhedderten Kabeln und viel Cola.
Speichern? Nur, wenn man Platz auf der Diskette hatte.
Updates? Gab’s nicht. Das Spiel war fertig, ob mit oder ohne Bug.
Kommunikation. Mit Band und Geduld.
Telefoniert wurde mit Kabel. In der Küche. Im Wohnzimmer. Am Wandapparat.
Handys? Gab es. Groß, schwer, teuer. Statussymbol, kein Alltagsgegenstand.
Textnachrichten? Kaum verbreitet.
Manche trugen ein Scall. Einen Pager, der nur piepen konnte.
Oder ein TeLMI, mit dem man Textnachrichten empfangen konnte. Futuristisch, aber umständlich.
Was es gab waren Anrufbeantworter. Mit echtem Band.
Wer Glück hatte, bekam eine Postkarte.
Wissen. Schwer. Und voller Eselsohren.
Google gab es nicht. Wikipedia war noch nicht einmal eine Idee.
Wer etwas wissen wollte, ging in die Stadtbibliothek.
Die Suchmaschine war ein alphabetischer Zettelkasten.
Und ja: den Brockhaus gab es. In 24 Bänden. Und er galt als unumstößliche Wahrheit.
Technik. War da. Aber tat nichts von allein.
Windows 95 kam auf den Markt – plötzlich gab es ein Startmenü!
Computer waren klobig, laut, langsam.
Bildschirme waren tiefer als breit.
Speicherplatz: 1,44 MB – auf Diskette.
Wer Präsentationen machen wollte, schleppte drei davon im Rucksack und hoffte, dass eine funktioniert.
Medien. Linear. Und mit Geduld.
Serien liefen einmal pro Woche. An einem festen Tag, zu einer festen Zeit. Manchmal verspätete sich das Programm. Wer etwas verpasste, hatte es verpasst.
Vielleicht kam nachts eine Wiederholung, also wartete man.
Und redete am nächsten Tag darüber. In der Schule, im Büro, beim Bäcker.
Der Höhepunkt: das gemeinsame Fernsehprogramm am Samstagabend.
Musikfernsehen war König, und ein Musikvideo ein kulturelles Ereignis.
MTV Unplugged: Bühne für große Momente.
Kurt Cobain war seit einem Jahr tot, Britpop der neue Sound der Rebellion.
Auf Schulhöfen wurde diskutiert: Blur oder Oasis?
Musik kam auf CD. Gekauft bei WOM.
Oder aus dem Radio. Wer ehrgeizig war, saß mit dem Finger auf REC. Spoiler: Der Moderator redete immer rein.
Die erfolgreichsten Singles 1995:
Vangelis Conquest Of Paradise
Coolio Gangsta’s Paradise
Rednex Wish You Were Here
Dreißig Jahre. Eine komplette Evolution.
Warum das alles wichtig ist?
Weil es zeigt, wie sehr sich der Alltag verändert – still, schleichend.
Und wie kurz dreißig Jahre eigentlich sind.
1995 ist so weit von heute entfernt wie 2055 von uns.
Damals ahnte niemand, was kommt:
Smartphones, Streaming, Diversity, Cancel Culture, Influencer, Fake News, Social Media, DSGVO, Homeoffice – Begriffe, die heute selbstverständlich sind, damals aber noch Zukunftsmusik.
Und doch: Vieles von dem, was heute Alltag ist, nahm damals Fahrt auf.
Im Kleinen, in Nischen, in ersten Ideen und Geräten,
die uns heute simpel erscheinen, aber voller Zukunft waren.
Heute sind wir dreißig Jahre weiter.
Und glauben zu wissen, wie Zukunft funktioniert.
Aber 2055 wird auf uns zurückblicken –
und schmunzeln.